Interview mit Renate Herre, Verlegerin des Carlsen Verlags

Interview mit Renate Herre

Von Christine Schniedermann

„Ich hätte zu gerne in Bullerbü gelebt“

Stürme, Regen, Kälte: Wenn es draußen ungemütlich wird, sollte man es sich drinnen kuschelig machen; vielleicht mit einem heißen Kakao, einer Wolldecke und einem Buch, das einen in eine andere Welt hineinzieht. Als Chefin des Carlsen Verlags kennt sich Renate Herre mit Geschichten bestens aus. Im Interview erzählt die Verlegerin, die zuvor verantwortliche Positionen im Ravensburger Verlag und bei Coppenrath und Hölker inne hatte, was „lesen“ bedeutet, welche Themen bei Jugendlichen aktuell sind und was sie selbst als Kind gern gelesen hat.

Frage: Frau Herre, warum sind Bücher wichtig für unser Leben, was kann „lesen“ für Kinder und Jugendliche bedeuten?

Renate Herre: Lesekompetenz bedeutet, eigenständig die Welt entdecken zu können. Und das beginnt schon beim Vorlesen. Erwachsene schaffen damit Situationen, die Neugierde auf Texte und andere Welten wecken und darüber hinaus eine intensive gemeinsame Zeit mit viel Nähe und Austausch ermöglichen. Spielerisch erweitert sich dabei die Sprachkompetenz und wächst die Kraft, aus der Phantasie und Leselust entstehen.

Frage: In Ihrem Verlag erscheinen die Harry-Potter-Bände. Was machen die Geschichten um den Zauberlehrling aus?

Antwort: Harrys ganz großes Verdienst ist, Generationen von Lesern zu verbinden – überall auf der Welt. Viele Kinder sind erst durch Harry Potter zu Lesern geworden, viele Freundschaften sind durch ihn entstanden und seine Welt ist für viele Menschen ein Zuhause geworden.

Frage: Welche thematische Richtung ist derzeit bei Kindern und Jugendlichen angesagt?

Antwort: Im Kinderbuch gibt es derzeit einen Trend zu Gestaltwandlern. Sehr erfolgreich sind Bücher wie  Woodwalkers, Alea Aquarius oder Animox. Ein Abenteuer der besonderen Art steckt auch in unserem Frühjahrsprogramm: Das Kinderbuchdebüt „Mitternachtsstunde“. Emily ist eine junge Heldin, die sich nicht unterkriegen lässt. Mit ihrem geheimnisvollen neuen Freund landet sie in einer anderen Welt: dem unheimlichen viktorianischen London der Monster, Geister und Fabelwesen. Und sie stellt fest, dass in der Mitternachtsstunde einfach nichts und niemand ist, wie es scheint.

Gerne tauchen Kinder in magische Szenerien ein und sie lieben fantastische Wesen. Sehr empfehlen kann ich die „Die Schule der magischen Tiere“ oder „Bitte nicht öffnen“. Darüber hinaus stehen weiterhin Gregs Tagebuch, Harry Potter, Lotta-Leben oder die Bücher von Rick Riordan ganz oben auf der Wunschliste.

Das Jugendbuch ist nach wie vor über Fantasy, Romantasy und ‚Sick Lit‘ sehr weit gefächert. Gender- und Diversity-Themen sind derzeit im realistischen Jugendbuch stark präsent, zunehmend aber auch in der Fantasy zu beobachten.

Frage: Streaming, Social-Media oder Computerspiele nehmen Zeit in Anspruch. Zeit, die zunehmend zum Lesen fehlt. Wie schafft man es, vor allem Jugendliche für ein Buch zu begeistern?

Antwort: Wir versuchen mit guten Inhalten dort zu sein, wo die Jugendlichen ihre Zeit verbringen. Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken zu generieren gehört mit zu unseren Kernaufgaben. Letztendlich entscheidet die Begeisterung der einzelnen Leser*innen, ob das Buch weitere Kreise zieht oder nicht.

Frage: Wohin wird die Entwicklung im Kinder- und Jugendbuchbereich hingehen?

Antwort: Wir wachsen aktuell besonders stark im Kinderbuchbereich, der Markt entwickelt sich positiv und wird aus meiner Sicht auch in den nächsten Jahren stabil bleiben.

Vielleser*innen wird es aus meiner Sicht immer geben. Natürlich beobachten wir im Jugendbuch insgesamt einen Rückgang durch das verkleinerte Zeitbudget und den Wettbewerb mit anderen Medien. Aber die Chance bleibt, dass ein neuer, großer Bestseller die Entwicklung schnell wieder ins Positivere drehen kann.

Frage: Welches Buch hat Sie in Ihrer Kindheit am meisten geprägt oder beeindruckt und warum?

Antwort: Astrid Lindgren hat meine Kindheit mit ihrem Gesamtwerk intensiv begleitet. Ich habe gerne mit den Protagonisten gelebt und mich mit ihnen identifiziert. Geschichten über Michel, Pippi, Kalle, Lisa, Bosse und die Prusseliese haben mich zutiefst berührt und amüsiert und ich hätte zu gerne in Bullerbü gelebt.

Frage: Was raten Sie Eltern, die ihre Kinder zum Lesen ermuntern wollen?

Ich wünsche mir, dass die Eltern sich an den Vorlieben und Interessen der Kinder orientieren und ihnen keine inhaltlichen Vorgaben machen. Ein Angebot an größtmöglicher Vielfalt und die eigene Begeisterung für Bücher und spannende Geschichten sind eine tolle Motivation.

Christine Schniedermann

Christine Schniedermann ist Mutter, freie Journalistin und Autorin

www.muensterlandroman.de