Interview mit Psychologe Georg Milzner
Das neue Buch: „Wir sind überall, nur nicht bei uns“
Buchvorstellung
Der Psychologe Georg Milzner schreibt in seinem neuen Buch „Wir sind überall, nur nicht bei uns“ (Beltz Verlag) über den Verlust der Aufmerksamkeit für uns selbst durch ständige Reizüberflutung. Er schreibt, die Aufmerksamkeit, die soziale Foren, Chats, Werbung oder Email verlangen, lassen das Gefühl für das Wesentliche schwinden. Milzner schreibt: „Je mehr wir nach draußen schauen, desto weniger nehmen wir uns selbst wahr.“ Er findet, dass zunehmend nicht die Menschen unsere Aufmerksamkeit bekommen, die sie eigentlich verdienen: die Familie, Freunde und auch wir selbst. Im Buch will Milzner aufzeigen, in welchen Formen Selbstverlust auftritt und wie man es schaffen kann, wieder mehr bei sich zu sein.
Von Christine Schniedermann
Interview
Frage: Täglich 80 WhatsApp-Nachrichten auf dem Handy, Jugendliche verbringen Stunden vor You-Tube-Videos, Manager leiden an Burnout und Familien wollen den ultimativen Urlaub erleben. Wem oder was rennen wir eigentlich hinterher?
Antwort Georg Milzner: Ich glaube kaum, dass wir im Augenblick wirklich etwas hinterherrennen. Wir versuchen wohl eher verzweifelt, Schritt zu halten. Denn die immer dichter vernetzte Welt überfordert uns mit ihrer Vielzahl an Angeboten. Gleichzeitig koppelt die Menge der Reize uns von unserer Selbstwahrnehmung ab. Die Problematik der Aufmerksamkeitssteuerung, die die größte Herausforderung des digitalen Zeitalters ist, wurde lange sträflich vernachlässigt, weil viele Experten den Blick nur bei den angeblich durch Computer krank werdenden und verdummenden Kindern hatten. Die werden in ihrer Gesamtheit aber weder kränker noch dümmer. Wohl aber leiden wir alle zunehmend unter einem schwindenden Gefühl für das, was wir sind und was wir wirklich wollen.
Frage: Warum ist vielen Menschen der permanente Blick aufs Handy so wichtig?
Antwort Milzner: Der extreme Grad der Vernetztheit macht, dass eigentlich immer irgendetwas auf unseren Smartphones eingeht. Ein so hoher Vernetztheitsgrad bewirkt eine ständige unterschwellige Unruhe, da wir hierfür von unserer Hirnstruktur her eigentlich nicht gerüstet sind. Hinzu kommt, dass wir alle gern möglichst gut informiert sein möchten. Ursprünglich ist informiert zu sein ja etwas, was alle anstreben, zumal viele Informationen früher nur in Abhängigkeit vom Bildungsstand oder der sozialen Zugehörigkeit zu bekommen waren. Wenn Informationen aber in immer engerer Taktung eingehen, dann entgehen uns plötzlich die wesentlichsten Informationen. Nämlich die, die das betreffen, was mit uns und um uns herum geschieht.
Frage: Sie schreiben, Eltern, die einen Unfall des Kindes auf dem Klettergerüst des Spielplatzes nicht verhindern, weil sie eine Email gecheckt haben, sind gestört. Inwiefern?
Antwort Milzner: Gestört ist das Aufmerksamkeitsverhalten der betreffenden Eltern. Ihre Aufmerksamkeit ist nicht dort, wo sie gebraucht wird, also beim Kind, sondern bei eingehenden Nachrichten, die mit der konkreten Situation nichts zu tun haben. Eltern, die auf diese Weise Unfälle nicht verhindern, sind oftmals selbst geschockt von dem, was da geschah.
Frage: Menschen konnten schon früher vor ihrem Selbst flüchten: in die Alkoholsucht, in immer neue Beziehungen, in viele Parties. Was ist aktuell anders?
Antwort Milzner: Wir flüchten heute nicht vor unserem Selbst. Wir können es bloß immer schlechter finden. Das Selbst als Gesamtheit unserer Person verlangt ja vor allem, dass wir in uns hineinspüren und auf uns hören. Wer aber der Vielzahl der Außenreize erliegt, der kommt nicht mehr nach innen. Und damit nicht zu sich selbst.
Frage: Warum sollten die Menschen aufmerksamer mit sich und ihren Liebsten umgehen? Und wie kann das gelingen?
Antwort Milzner: Wir selbst mit unserem eigentlich reichen Innenleben, sowie die Menschen, die wir lieben, sind die größten Ressourcen, die wir haben. Die Versprechen, nach denen maximale Vernetzung und Shopping rund um die Uhr uns glücklicher machen würden, sind nicht eingelöst worden. Wenn man aber schaut, was Menschen dauerhaft wirklich beglückt, dann sind das in erster Linie die intensiv gelebten Beziehungen und die Verwirklichung ihrer Talente. Beides kann man nur mit einer Aufmerksamkeitsökonomie, die dem, was das Wichtigste ist, auch die meiste Aufmerksamkeit schenkt.